Damals, als wir nett waren …

„Du warst doch immer so ein netter Junge.“ Klar, das stimmte ja auch, Mutter. Aber komischerweise oder besser auf unerklärliche Weise änderte sich das irgendwann. Alles ändert sich, irgendwann, das wissen wir. Fortschritt heißt Veränderung, haben wir auch gelernt. Ist auch gut so. Und so kam alles, wie es kommen musste.

***

  „Und dann noch ein Gewehr. Von meinem Opa, da hab ich ein Gewehr geschenkt bekommen“, sagte ich müde. Ich war eigentlich kein Kind mehr. Oder doch, irgendwie schon. An diesem Tag, viel zu früh, morgens erste Schulstunde, sollte jeder in der Klasse der Reihe nach erzählen, wie er Weihnachten gefeiert und was er Schönes geschenkt bekommen hatte. Das übliche Zeitspiel, denn immer, wenn Lehrerinnen unvorbereitet waren, veranstalteten sie irgendwelchen dämlichen Ringelpiez mit Anfassen. Erwachsene waren so durchschaubar. Man sagte ihnen, was sie hören wollten, und sie ließen einen in Ruhe.

„Hä?“ Frau Rüttgenstein, meine Klassenlehrerin blickte mich verständnislos an. „Ein Kuvert?“ Sie hielt ihre Hand ans Ohr und formte ein imaginäres Hörrohr. Vielleicht hatte sie ein Problem mit ihren Ohren. Sollte sich mal die Füße waschen, damit der Dreck aus den Ohren nachrutscht, witzelten wir manchmal. Kinder können grausam sein. Oder besagtes Wort war ihr gänzlich unbekannt. Gewehr war vielleicht nicht Teil des Wortschatzes einer beschränkten Klippschullehrerin. Beschränkt, das traf es. Aber halt, ich sollte nicht ungerecht sein. Nicht nach all den Jahren. Das wäre nicht fair. Die Raumakustik in den Gemäuern unserer altehrwürdigen Schule war schlecht. Und sprach ich nicht auch zu leise? Ich war doch so schüchtern.
„Ein Gewehr“, wiederholte ich stur. „Zum Schießen“, ergänzte ich ungerührt. Pause. „Mein Bruder hat auch eins bekommen.“ Natürlich bei weitem nicht so gut wie meins, aber das sagte ich ihr nicht.
„Jaa, ach jetzt verstehe ich. Ein Spielzeuggewehr hast du bekommen. Ja, das ist ganz toll, Max.“ Sie ließ ihr hassenswert überhebliches Lachen hören und meinte wohl, ihre hörakustische Fehlleistung überspielen zu müssen: „Haha, ich hatte nur Kuvert verstanden und dachte da ständig, ei, ei, wer verschenkt denn einen Briefumschlag zu Weihnachten an ein Kind, haha…“
„Ein Gewehr“, sagte ich entnervt noch einmal. „Es schießt, es rattert. Es macht richtige Schussgeräusche. Kein Spiel-zeug-gewehr aus Plaste“, sagte ich abschätzig und betonte jede einzelne Silbe. Gewehr klingt nicht ganz so martialisch wie Maschinenpistole, hatte ich damals gedacht. Wenn du Maschinenpistole sagst (heute eher Sturmgewehr), halten dich alle, die es vielleicht verstehen, für einen Klugscheißer, daher eben einfach Gewehr. Um nicht als Freak zu erscheinen, habe ich wohl im Laufe der ersten Schuljahre die vereinfachte kindgerechte Sprache übernommen, die unsere Lehrerinnen von uns erwarteten. Es fiel mir später schwer, diese üble Gewohnheit abzulegen. „Ähm und eigentlich …“

Aber sie hörte nicht mehr zu, sondern hatte sich schon meinem unterbelichteten Banknachbarn zugewandt, der stolz erzählen durfte, was ihm seine Mami und der Onkel Horst oder Manne, der oft zu Besuch kam, untern Weihnachtsbaum gelegt hatten. Danach kamen ihre Lieblingsschülerinnen an die Reihe, aber da hatte ich innerlich schon abgeschaltet. Babysprech, halbdebiles Kindergeschwätz über Puppen oder Kaufmannsläden. In mir kochte es. Ich hörte es rauschen und blubbern, so satt hatte ich es. Mir Gehör verschaffen, ja. Rede, Genosse Mauser! Warum nur kam mir Majakowski in den Sinn?
Irgendwann im frühen Januar muss das gewesen sein, in irgendeinem längst vergangenen neuen Jahr, am ersten Schultag nach den trostlosen Weihnachtsfeiertagen. Trostlos waren sie immer. An den verfickten Weihnachtsmann und den lieben Gott glaubte ich ja nicht mehr, Superman war tot, John Lennon auch, was blieb da also noch? Was mache ich hier in diesem Körper unter all diesen Halbaffen, in dieser grauen flachdimensionalen Welt, dachte ich. Verfluchte Scheiße, wie lange soll das so weitergehen? Jahre? Jahrzehnte? Nicht auszuhalten.
Irgendwie kam mir Tschechows Gewehr in den Sinn. Hängt im ersten Akt ein Gewehr an der Wand, dann muss es im letzten Akt abgefeuert werden. Sinngemäß. Kürzen wir die Aufführung ab, dachte ich wohl. Doch, ich denke schon, dass ich ein richtig netter Junge war. Gesellschaftlich aktiv, sportlich, Timurhelfer, immer fleißig Altstoffe gesammelt, fremden Omis die Taschen nach Haus getragen und so. Man tat, was man konnte. Auch an diesem Tag, als ich nach der 4. oder 5. Stunde in der großen Hofpause den Schulhof verließ, womit ich gegen die Schulordnung verstieß. Schon riskant, denn Verstöße gegen die Schulordnung wurden hart geahndet. Man wurde vor den Fahnenappell zitiert und getadelt, was eigentlich sehr peinlich war. Seine ganze Zukunft hätte man sich verbaut, denn was hätte da aus einem werden sollen? Ich wollte aber unbedingt auf nen Sprung nach Hause, da wir damals gleich in der Nähe wohnten, weil wir ja ausgebrannt waren, wie ich schon mal erzählt hatte. Na, um mein Weihnachtsgeschenk vom Dachboden zu holen, die alte AK 47 mit dem gefüllten Magazin … Na ja, nicht wirklich ein Weihnachtsgeschenk. Ein ziemlich ausgeleierter Schießprügel mit abgestoßener Brünierung, schoss fast schon um die Ecke. Machte aber nichts, war sonst gut gepflegt, mit eigens besorgtem Waffenöl. Das Stück war von den Russen organisiert. Von den Freunden, wie man sagte. Wir hatten eine Garnison ganz in der Nähe, wo man bei Bedarf mal was tauschen oder kaufen konnte, Benzin, Uhren und so.  War aber jetzt nicht so, dass ich da haufenweise Unschuldige abknallen wollte oder ähnlichen Quatsch. Nee, nicht, dass Ihr was Falsches denkt. Nur mal zeigen und so… Okay, die Ehrfurcht in den Augen der Mitschüler sehen. Respekt beibringen. Respekt vor einer geladenen Waffe zu haben, klar, das ist immer wichtig. Sagte Opa damals auch immer. Kann man gar nicht früh genug anfangen, den anderen Kindern das bewusst zu machen oder? Aber dazu kam’s ja gar nicht. Zum Glück auch für meine Lehrerin. War noch für ein paar Jahre gut, in denen sie arme Schüler malträtieren konnte. Nur etwas Pech kam für mich hinzu, der geringe Abzugswiderstand der durchgeladenen Knarre, und dass der Sicherungshebel nicht umgelegt war, ja, das hatte ich wohl in der Eile vergessen. Und Dauerfeuer war in dem Fall natürlich auch nicht optimal, erstmal das halbe Magazin mit 7,62er Panzerbrand- und Leuchtspurgeschossen sinnlos verballert, voll auf den erstbesten Typen draufgehalten (dessen Namen ich vergessen habe), der mir da auf dem breiten leeren Gang im Schulgebäude entgegenkam – der starke Rückstoß war ja für mich noch recht ungewohnt, so dass man den ersten Feuerstoß leicht verriss und ungewollt die Rübe traf, die sofort zerplatzte, Hirnmasse und Blutspritzer an der weiß getünchten Wand in einem sternförmigen Muster verteilend, dass es für den guten Mark Benecke heuer die reinste Freude gewesen wäre, und dann noch dem Direktor ein paar Schuss in seinen feisten Wanst gerotzt, der zufällig in die Schussbahn geriet, und dann von hinten, dem Rektor ins Rektum, haha, keine Ahnung, was da in mich gefahren war. Höllisch laut hallten die Schüsse durch die Schule, und keiner wagte, die Türen eines dieser Klassenzimmer zu öffnen und seinen nutzlosen Holzkopf rauszustecken, während Querschläger die Fenster auf der rechten Seite zerschlugen und surrend über den Schulhof bis zum Auslieferungslager der benachbarten Handschuhfabrik flogen, wo aber keiner verletzt wurde, weil da eh keiner gearbeitet hatte. Die faulen Säcke waren wahrscheinlich noch alle besoffen gewesen nach den langen Feiertagen. Für die Munitionsverschwendung hab ich mich da schon etwas geschämt. Wo das doch eigentlich alles nur für den Kampf gegen den Klassenfeind gedacht war, wenn es gegen die Natoschweine gehen sollte, die feindlichen Imperialistenknechte, gegen die wir uns schützen mussten, wie es hieß … Egal, jedenfalls voll auf die Neune. Hehe, was man als Kind alles so für Blödsinn anstellt, ja? Keine Ahnung, was ich dachte, wer ich bin. Taxi Driver? Rambo? Nein, den verschissenen Rambo gab’s ja damals noch nicht, glaube ich oder? Danach kam ich weg, das heißt, man brachte mich erstmal woanders hin. Weil, da warn ja schon einige andere komische Sachen gewesen, wo ich noch gar nichts von geschrieben hab. Muss ich ja auch nicht. Wurde natürlich auch damals (aus Gründen, die jetzt nichts zur Sache tun) alles vertuscht, ein bedauerlicher Einzelfall sag ich mal, soweit es ging, und viel später in den Irrungen und Wirrungen der Wendezeit, wisst ja, wie es war, da ging es drunter und drüber, viele Akten und behördliche Informationen gingen verloren, versehentlich geschreddert, kümmerte auch keinen. Ne kleine Jugendsünde, kann jedem mal passieren; vergeben und vergessen. Und ich bin ja auch heut kein schlechter Mensch wa? Sagen alle, die mich kennen. Bemühe mich auch, Freunde, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Mein Ehrenwort drauf. Nur ganz so nett wie früher bin ich natürlich nicht mehr. Na, vergesst es, ich wollt’s nur mal erwähnt haben.


2 Gedanken zu “Damals, als wir nett waren …

  1. Dark Lord 27. Juni 2016 / 3:50

    Episch, so schön lapidar aus dem Handgelenk. „Erzähl mal einen Schwank au deiner Jugend.“ Schöner Schwank. Und die kindliche Unschuld. Damals waren ja Konsequenzen noch meilenweit entfernt, da waren sie noch nicht wichtig. Genial. Gehört auf jeden Fall ins nächste Buch 🙂

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    • Maxx 27. Juni 2016 / 20:41

      Klasse, wenn man so verstanden wird. 😉

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