Eine andere Sache will ich doch noch schnell nachschieben, bevor ich sie vergesse. Ist mir schon einige Male beim Lesen eines Romans in den Sinn gekommen: die Frage, ob oder inwieweit ein Wechsel der geschlechtsspezifischen Perspektive beim Schreiben sinnvoll ist und ob der gelingen kann.
Ich meine damit, wenn z. B. eine Autorin ihre Geschichte aus Sicht einer männlichen Hauptperson erzählt. Die Frau schreibt in der Ichform, aber aus Sicht eines Jungen bzw. Mannes, nimmt also den Standpunkt des anderen Geschlechts ein. Könnte auch umgekehrt sein, etwa wenn ein Autor ein Erlebnis aus Sicht einer Frau schildert. Die Handlung ist natürlich erdacht, aber irgendwie stelle ich es mir schwierig vor, vom Standpunkt des anderen Geschlechts ausgehend authentisch zu schreiben oder? Ist es nicht sinnvoller, aus der eigenen Geschlechtsperspektive zu schreiben, die man ja nun auch am besten kennt? Darauf gestoßen bin ich, als ich begann, den „Distelfink“ von Donna Tartt zu lesen. Das Buch hat ja auch nen Preis gewonnen, den Pulitzer-Preis bekanntlich, aber was heißt das schon in diesen Zeiten, in denen selbst einem Bob Dylan der Literaturnobelpreis hinterhergeschmissen wird.
Sei es, wie es sei, jedenfalls ist der Distelfink aus Sicht eines Jungen geschrieben. Liest sich in der deutschen Fassung recht gut, auch wenn die besagte Autorin vielleicht zur Geschwätzigkeit neigt. Dieser wohlerzogene, aber traumatisierte Junge namens Theo erzählt also einen prägenden Teil seiner Lebensgeschichte und beschreibt seine Gefühls- und Gedankenwelt ganz ausführlich und ausschweifend, wie Jungen seines Alters das eben so machen … Aber halt halt, kam mir da beim Lesen ständig in den Sinn, ein normaler Junge (so wie ich einer war), der würde das doch nie tun, der würde nicht immer solch überflüssigen, emotional angereicherten Dünnpfiff von sich geben (…ach wie nett, dass ich so viel Zuneigung von meiner Mutter erfahren habe usw. usf.), und der würde nicht ständig im richtigen Moment was Falsches tun oder sagen und im falschen Moment nur dümmlich schweigen. Oder doch? Aber dann diese Beschreibung der Vater-Sohn-Beziehung. Auch wenn es eine fiktive Story ist, haut die nach meinem männlichen Empfinden irgendwie aus dieser Erzählperspektive nicht hin, passt vorn und hinten nicht. Versteht jemand, was ich meine? Nein? Na, auch egal.
Die meisten Leser/-innen waren bestimmt begeistert. So verschieden sind eben Geschmäcker. Obwohl es wiederum in unserer modernen Gesellschaft durchaus im Bereich des Möglichen liegt: Jungen/Männer, die sich eher wie Mädchen/Frauen verhalten, auch so denken und so, aber das ist ja hier ausdrücklich von der Autorin nicht intendiert, denk ich mal. Tatsächlich musste ich erst bis Seite 50 oder 60 lesen (als der Name Theo oder Theodore ins Spiel kam), bevor ich begriffen habe, dass die erzählende Person ein Junge und eben kein Mädchen ist. Weil diese ganze Beschreibung des Verhaltens und die emotional bis ins letzte Detail aufgedröselte Gedankenwelt und Erzählweise eben für mich total weiblich klangen, da hatte ich angenommen, dass es um ein Mädel ging. Interessant, wa? Störte mich dann irgendwie bzw. ließ mich daran zweifeln, ob man sich als Autor(in) wirklich so weit vorwagen und tun sollte, als könne man sich in die Gedankenwelt des anderen Geschlechts einfühlen. Ich denke nämlich tatsächlich noch, dass es da Unterschiede gibt.
PS: Ich erinnerte ich gerade, dass mir das auch schon bei einer anderen Autorin aufgefallen ist, deren Name mir aber jetzt entfallen ist … Ach so, Charlotte Link war das; wenn sie aus der Perspektive einer weiblichen Protagonistin schreibt, ist alles emotional nachvollziehbar, meine ich, aber wenn sie die Erzählperspektive wechselt, ist es gefühlsmäßig für mich nicht mehr ganz stimmig, da spürt man den weiblichen Einflussfaktor … hmm. Trotzdem natürlich brillant geschrieben, keine Frage.