Dryland

Storm

Der hohe Wellengang machte der abgehalfterten Yacht schwer zu schaffen. Auf hoher See war sie von heftigem Wetter überrascht worden und hatte mit schweren Sturmböen von weit über 40 Knoten Windgeschwindigkeit zu kämpfen. Zu allem Übel schien jetzt auch noch der alte Dieselmotor zu versagen, der doch das Boot seit vielen Jahren zuverlässig angetrieben hatte. Er stotterte ab und zu und verlor spürbar an Leistung. Vielleicht hätte man auf die letzte planmäßige Wartung nicht aus Kostengründen verzichten sollen oder dem Boot auch mal eine Generalüberholung gönnen sollen. Egal, dachte die Frau in der Kabine. Nun war der Sturm eben da. Gegen die Natur war man ohnehin machtlos. Wenn der Bug in die Wellentäler abtauchte, spritzte schäumende Gicht an die beschlagenen Plexiglasscheiben der Kabine. Vom überspülten Deck aus floss ein allmählich stärker werdendes Rinnsal, den Gesetzen der Schwerkraft gehorchend, über die Treppe hinab. Unerträglich, seufzte die Frau und hielt dem erschöpften Kellner wortlos ihr geleertes Sektglas hin. Das letzte übrig gebliebene Besatzungsmitglied schenkte ihr noch ein letztes Mal wortlos nach und entfernte sich dann hastig, um seine Schwimmweste anzulegen. Er blickte sich nicht um. Eine unerträgliche Vorstellung, dachte die Frau, die einst Schauspielerin gewesen war und sich dann für einen Wechsel in die Politik entschieden hatte. Nein, die Vorstellung, nur noch Mineralwasser aus Flaschen trinken zu müssen, das um ein Vielfaches teurer als Trinkwasser aus der Leitung war, musste für jede engagierte Frau mit sozialem Gewissen empörend, einfach unerträglich sein. Solch ein Land wäre nicht mehr ihr Land, setzte sie ihren Gedankengang wie in einer eingefahrenen Schleife fort. Das wäre Dryland, ein eintöniges graues Land, in dem nur noch Sukkulenten, Kakteen und speziell angepasste Kartoffelsorten gedeihen würden und in dem die Menschen schlussendlich verdursten würden. Das durfte die couragierte Zivilgesellschaft nicht zulassen.
Die Hilferufe der über Bord gespülten Crewmitglieder, die gelegentlich noch die Sturmgeräusche übertönten und an ihr Ohr drangen, beachtete sie nicht. Es waren erfahrene Seeleute, die aber vom Sturm überrascht worden waren. Der jetzt bewusstlose Skipper mit der blutenden Kopfwunde hatte auf Anweisung der Eigentümerin die Sturmwarnung ignoriert. Bei diesem starken Seegang und den niedrigen Temperaturen würden sich die über Bord gegangenen Männer wohl nicht mehr lange über Wasser halten können. Noch könnte man ihnen helfen, man könnte vielleicht das Rettungsfloß flott machen oder den Ertrinkenden wenigstens einen Rettungsring zuwerfen, aber …
Die Frau schenkte den in der eiskalten See um ihr Leben kämpfenden Männern keine Beachtung mehr. Sollen sie doch fortschwimmen, wenn es ihnen hier nicht gefällt, dachte die Frau trotzig. Gedankenverloren blickte sie durch die beschlagene Scheibe nach draußen in den düsteren Himmel. Wellenberge schienen sich nun immer höher aufzutürmen, die ersten Blitze zuckten. Wenn man es recht bedachte, war nicht alles Unheil dieser Welt vom Festland ausgegangen? Ein kurzes hysterisches Lachen war zu vernehmen. Es klang irre.

Wasser spendet Leben, Wasser ist verflüssigte Liebe, Wassermoleküle bereichern uns, murmelte die Frau mit leerem Gesichtsausdruck, während sie leicht schwankend nach einem Halt tastete. Ihr Sektglas fiel auf den durchnässten Teppichboden und rollte nun bei jeder Bootsbewegung von einer auf die andere Seite.
„Nie wieder Dryland!“, wiederholte sie ihr Bekenntnis störrisch wie eine sinnlose Formel, während das Boot krängte und mit Zeit immer stärkere Schlagseite bekam …

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