Dream Flight

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Irgendetwas muss da gewesen sein, das mich aus dem Schlaf hochschrecken ließ. Reflexartig wischte ich mir ein paar Schweißtropfen von der Stirn und drehte das Lüftungsventil über meinem Kopf etwas weiter auf. Nein, ich hatte höchstens gedöst, nicht richtig geschlafen. Für ein erholsames Nickerchen waren mir die engen Flugzeugsitze sowieso immer zu unbequem. Aber irgendwas hatte ich doch geträumt, irgendwelchen Blödsinn. Was war das gleich? Hmm, es ging um etwas, das mein Vater mir noch hatte sagen wollen, bevor er damals … Wie eine verwehende Spur im Sand war da eine verlöschende Erinnerung in meinem Bewusstsein, doch das Ende des Traumfadens entglitt mir, sobald ich danach greifen wollte.

Das beruhigend summende, gelegentlich auf- und abschwellende Geräusch der leistungsstarken Triebwerke des Jumbos hatte eine einschläfernde Wirkung auf mich. Ich fühlte ich mich jetzt erst recht müde und zerschlagen. Wir waren früh gestartet, hatten pünktlich abgehoben, aber der Flug war zu früh für mich. Irgendwie ist es immer zu früh. „War da was?“, warf ich meinem korpulenten Sitznachbarn auf der linken Seite fragend zu, der einen der von vielen begehrten Fensterplätze bekommen hatte, von denen man direkt auf die Tragflächen schauen kann. Ich halte mich von Fensterplätzen fern, soweit es geht. Zu viel schädliche UV-Strahlung in großer Flughöhe. Mein Sitznachbar, ein feister Business- oder Vertriebstyp, würdigte mich keiner Antwort, sondern starrte nur wie gebannt durch das rundliche Polycarbonatfenster nach draußen. Abgesehen von der niedrig stehenden Wolkendecke sah man ab der Spitze der Tragflächen bis zum Horizont praktisch nichts. Auf den Tragflächen glaubte ich eine dünne Eisschicht zu erkennen. Nichts, was Anlass zur Sorge geben müsste. „Kann ich bitte nen Tomatensaft bekommen?“, wandte ich mich an die  vorbeihuschende schwarzhaarige Flugbegleiterin. Keine Antwort. Sie hatte es wohl eilig gehabt oder mich gar nicht gehört. Wortlos verschwand sie hinter dem Vorhang in der ersten Klasse.

Ein leises Bing ertönte – ein angenehmer Klang. Das kleine Symbol für das Anschnallzeichen leuchtete über uns auf. Offenbar ein paar Turbulenzen, wie sie auf jedem Flug immer mal wieder vorkommen. Wir wechselten bestimmt wetterbedingt auf eine niedrigere Flughöhe. Sicher hatte der Flugkapitän dies angekündigt, während ich schlief. Hatte mich seine Durchsage geweckt? So muss es gewesen sein. Gegen widrige Wetterbedingungen ist man machtlos. Ich spürte im Magen, wie die Maschine allmählich absackte. Vielleicht etwas schneller als gewöhnlich, aber sicher nur, um das Unwetter zu unterfliegen. Der Sinkflug kann gleichmäßig erfolgen, aber zuweilen auch schneller. Hängt von sehr vielen Faktoren ab und ist völlig normal. Vorn auf dem TV-Bildschirm zeigten sie irgendeinen Kinofilm. Nichts, was mich interessierte. Ich blickte mich um. Für diese frühe Stunde schien der Flieger ziemlich gut besetzt zu sein. Nur wenige Sitzplätze waren frei geblieben. Kaum jemand schien sich den Film anzuschauen. Wo waren die Kopfhörer? Ein Remake eines älteren Horrorfilms lief da, der mir immer ein wohliges Gruseln vermittelte und den ich früher echt cool fand.  An den Neuverfilmungen älterer, bereits verfilmter Stoffe finde ich allerdings meist keinen Gefallen. Uninspirierte Wiederkäuerei. Alter Wein in neuen Schläuchen. Nichts geht über das Original. „Final Destination“, so hieß der Streifen, der da vorn flimmerte. Natürlich nicht der Teil mit dem Flugzeugcrash, nein. So etwas würde man doch niemals während eines Fluges zeigen.
Ich spürte, dass wir immer noch an Flughöhe verloren. Es schien, als würde das Triebwerksgeräusch etwas lauter werden. Besorgte Menschen, die unter diffusen Flugängsten leiden, könnten da ein flaues Gefühl in der Magengegend verspüren, kam mir in den Sinn. Es hat aber nichts Bedrohliches, das wusste ich. Es kann sogar vorkommen, dass der Pilot mehr Schub geben muss, wenn die Maschine sinkt, was ängstliche Fluggäste sehr beunruhigen kann. Auch dabei handelt es sich aber um einen vollkommen normalen Vorgang. Da die Maschine beim Sinkflug verschiedene Luftschichten passiert, kann es immer mal zu einem weiteren Absacken kommen. Hatte ich schließlich alles oft in einschlägigen Internetforen gelesen.
***
Dennoch schien sich ein Gefühl der Unruhe zu verbreiten. Allgemeines Gemurmel und Geraune war in den angrenzenden Sitzreihen zu hören. Fluggäste wurden munter, drehten sich um und versuchten, Stimmungen zu erkunden, Regungen in den Gesichtern der Mitreisenden zu lesen. Doch es bestand kein Grund zur Sorge, das war mir klar, denn vieles, was Reisenden gefährlich und bedrohlich erscheint, liegt völlig im Rahmen der normalen Reaktionsmöglichkeiten des Flugpersonals und der Maschine.
***
Unbestimmbare Pling-, Dingdong- und Rumpeltöne, noch nie gehörte akustische Signale erfüllten jetzt den Raum. Die Spitze der Maschine schien sich leicht nach unten zu neigen. Eine weitere Flugbegleiterin hangelte sich an den Sitzreihen nach vorn. Sie wirkte leicht verstört und versuchte, ein freundliches, unbekümmertes Gesicht zu zeigen, das jedoch im nächsten Moment zu einer Grimasse gerann. Aus dem vorderen Teil des Flugzeuges war nun ein lauter werdendes Poltern und Pochen zu hören, so als ob … ja, als ob jemand einen harten Gegenstand oder Werkzeug mit voller Wucht gegen eine kunststoffbeschichtete Tür schlagen würde. Was war denn das für ein Lärm? Das waren definitiv Geräusche, die nicht hierher gehörten, jedenfalls nicht in dieses Flugzeug, in dem ich saß … Eine tiefe männliche, sich fast überschlagende Stimme, die sich fast bis zur Hysterie steigerte. Trotz der hochdrehenden Turbinen vernahm ich einige Wortfetzen. „ … doch endlich auf, Mann, … verrückt geworden?! Mensch, mach keinen Scheiß! … zieh hoch! Lass mich rein, Andreas, … können doch über alles reden! …“
Die Triebwerke wurden lauter. Wer auch immer im Cockpit saß, der Mann gab vollen Schub, während die Maschine in einen steilen Sturzflug überging … Chaos brach aus. Geschrei und Gewimmer. Über den Sitzen öffneten sich einige Gepäckklappen. Der ganze Krempel fiel heraus und landete zum Teil auf den Köpfen der Passagiere, die jetzt alle wach waren – Atemmasken, Taschen, Smartphones purzelten heraus, ein aufgeklapptes Laptop schlitterte mitten im Gang von hinten nach vorn. Ein älterer Mann, der eben aus der hinteren Toilette gestolpert war und im Laufen noch hastig seine Hose hochzog, stürzte im Gang und landete neben mir stöhnend auf dem Boden. Er tastete nach seiner Brille. Mein Sitznachbar jammerte und tippte hektisch auf seinem Handy herum. Ich versuchte aufzustehen, doch der im Gang liegende Körper versperrte mir den Weg. „Lasst mich durch, ich weiß, wie die Tür aufgeht“, rief ich und hob an: „Man muss nur …“, dann schwieg ich. Im Fenster zur Linken grüßten mich schon die blendend weißen Berggipfel der Alpen. Das war’s, ging mir durch den Kopf. In den letzten Sekunden dachte ich nur das, was alle dachten, und tat das, was alle taten. Wünschte mir noch ganz fest, dies wäre ein Traum.

Mitten hinein in den ohrenbetäubenden Lärm der unter Volllast laufenden Flugzeugturbinen erwachte ich schweißgebadet. Vor meinem Fenster waren Fachkräfte des vom Vermieter beauftragten Gartenbaubetriebs mit benzinbetriebenen Laubbläsern und Laubsaugern zugange. Dreck wurde hochgewirbelt, Sandkörner prasselten unüberhörbar an mein Schlafzimmerfenster. Ich ging erst mal pinkeln, spülte mir das Gesicht mit kaltem Wasser ab und legte mich dann wieder hin. Ich griff zu den Ohrstöpseln, die vorsorglich immer neben meinem Bett liegen  – Ohropax, Luxus für die Ohren.
Da ich das Flugticket so kurzfristig nicht mehr stornieren konnte, ließ ich es verfallen.

2 Gedanken zu “Dream Flight

  1. mig 25. November 2018 / 6:19

    ..immer noch keine möglichkeit zu „liken“ bei Dir, das finde ich klasse 😉 wird bei gelegenheit auch so gehandhabt, ich mag die einstellung. und diese geschichte

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    • Max 25. November 2018 / 17:16

      Dank dir, M. 🙂 Ja, schreib auch mal wieder was, und lass mich ruhig wissen, wo es dann steht. Würde gern mal wieder was von dir lesen … Solche Like-Buttons oder Herzchen, wo man nur schnell mal draufklickt, mag ich nicht, daher hab ich schon bewusst drauf verzichtet … Ist mir allemal lieber, wenn jemand mal kurz einen persönlichen Kommentar formuliert, der überhaupt erst Abstufungs- und/oder Differenzierungsmöglichkeiten zulässt. Dazu ist es für mich ja auch bereichernder … 😉

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